In einem weiten Land, namens Mesopotamien, gab es einen hohen Berg mit einem spitzen Gipfel.
Der Berg hieß Nemrûd.
Nemrûd war schon seit Jahrtausenden dort. Um ihn haben sich viele Fürsten, Könige und Sultane bekriegt.
Er wollte eigentlich niemandem gehören. Er wollte frei sein.
Nach vielen Jahren und vielen Kriegen gingen alle diese Krieger weg, und Nemrûd war endlich froh. Denn es war jeden Tag so ein Geschrei und Getöse.
...
Eines Tages war ein schöner sanfter Wind unterwegs und wollte eigentlich einen ruhigen, schönen Platz finden, um dort ein bisschen auszuruhen. Auf seinem Flug begegnete er dem Gipfel von Nemrûd.
Um den Gipfel drehte er einige Kreise. Es gefiel ihm hier sehr. Er musste auf einmal gar nichts mehr, nicht hoch und herunter, nicht langsamer oder schneller fliegen, und auch nicht wärmer oder kälter werden...
Er drehte sich - und drehte sich - und drehte sich um den Gipfel...
Irgendwann aber ist der Nemrûd aus seinem tiefen Schlaf aufgewacht.
Erst dachte er, er würde träumen!
Es war für ihn das erste Mal, dass er sich, seit er mit dem Himmel und mit seinen Geschwisterbergen existierte, so angenehm, ja glücklich fühlte.
Auch wenn er so groß und mächtig war, hatte er doch immer viele Sorgen und fühlte sich des öfteren einsam.
Er dachte: Das kommt vom Altwerden.
- Das wissen wir nicht, aber es kann schon der Grund sein...-
...
Nemrûd sprach den Wind an und fragte:
- „Wo kommst du her, wer bist du?“
- „Ich bin ein Nomadenhirte, der als Wind geboren wurde“, sagte der Wind, während er sich immer weiter drehte.
- „Wohin geht denn deine Reise?“
- „Das würde ich auch zu gerne wissen... Aber bis jetzt habe ich noch keine Antwort darauf gefunden. Und niemanden habe ich bisher getroffen, der es mir hätte sagen können....“
- „Ich suche eigentlich einen Freund, mit dem ich mich die nächsten Jahre unterhalten kann... Ich bin auch etwas müde geworden vom ständigen Rasen und Rasen und Rasen...“
...
- „Was kannst du bieten?“ fragte Nemrûd den kreisenden Wind.
- „Ja, was kann ich bieten?“ fragte sich der Wind im Stillen, und dann gab er folgende Antwort:
- „Ich kann dir im Winter aus meinen Federn eine Mütze stricken, damit du nicht frierst;
- ich kann in der Sommerhitze aus dem Euphrat Wasser holen und es auf dich sprühen;
- ich kann zu den Festtagen die schönsten Lieder singen;
- und: ich werde dir alle meine Geschichten erzählen, die ich auf meinen vielen Reisen gesammelt habe...
Außerdem... außerdem würde ich dir gerne zum ewigen Freund werden“ sagte er zum Schluss...
„Das ist ja majestätisch“ dachte Nemrûd und freute sich ‚kochend‘ über diese Begegnung.
- „Also Bao“, so hat Nemrûd den Wind genannt, „wenn du willst, kannst du gerne hier bleiben. Ich bin sicher, wir werden uns viel zu erzählen haben“.
...
Und schon machte sich Nemrûd darüber Gedanken, wie er diesen besonderen Gast behandeln sollte.
Dieser mächtige Nemrûd war auf einmal irgendwie aufgeregt...
Nachdem sie sich so gegenseitig bewundert und umworben hatten, bemerkte Nemrûd in sich ein seltsames, wunderbares Gefühl. Er fühlte sich mit seinen Tausenden von Jahren wie neu geboren: wie herrlich war es zu leben!
Bao kreiste um Nemrûd weiter. Und nun begannen sie, sich gegenseitig zu erzählen, was sie alles erlebt hatten, bevor sie sich trafen, und sofort entstanden eine Menge spannender Geschichten (zum Beispiel: ... - aber halt! die sollen ein andermal erzählt werden...).
...
An einem Sommertag, als es sehr heiß war, sendete Bao einen Teil seines Flügels zum Euphrat, um etwas Frische zu holen. So kam es auch: Es dauerte gar nicht lange, bis der Windflügel mit einem Lied vom Euphrat zurückkehrte. Er sang so weit und so tief, dass alle Hügel und Täler, alle Felsen und Bäume, alle Insekten und Wassertropfen vom Euphrat diesem Lied zuhörten, als seien sie mit hineingezaubert...
Von allen Anwesenden aber hatte niemand bemerkt, dass auch Bao angefangen hatte, mitzusingen... Es war ein gewaltiges Konzert. Es gab nichts und niemanden, der bei diesem Konzert nicht zuhörte – und der nicht mitsang...
Natürlich war auch Nemrûd an dem Konzert beteiligt...
EUPHRAT - XABURÊ
So wie meine Wünsche -
Bist du zu groß und zu tief.
Geräuschvoll arbeitest du dich voran:
Xum xum – und lew lew.
Erinnerst du dich gar nicht an das Liegen?
an den Schlaf?
Immer stöhnst du, schreist und brüllst -
Aber niemand weiß, was du möchtest...
...
Dein Ziel ist Stärke – Fortschritt!
Dein Bett ist eng.
Du willst es breiter machen -
Du bäumst dich auf mit Schreien und Hilferufen -
Du willst wie ich die Freiheit!
...
Gewaltsam hast du die Brust dieser Erde aufgerissen.
Ich weiß nicht, warum du nicht aufwärts fließt?
Trotz aller Stärke eilst du ohne Willen und ohne Wünsche
Der Brust des lieblosen Meeres zu.
...
Ich wünschte mir
Wie du ohne Sorgen und ohne Wunden zu leben -
Aber du lebst gut
Weil du ohne Hirn und Herz lebst.
Wärst du wie ich ein Kurde -
So würde sich deine Stärke in Sorgen und Wunden verwandeln...
Und wenn sie nicht gestorben sind: so sind Nemrûd und Bao nach dieser Begegnung bis heute untrennbare Freunde geblieben. Sie erzählen sich gegenseitig ihre Geschichten und begrüßen dort oben alle 365 Tage des Jahres die Steine, Felsen, Insekten, Regentropfen, Schneeflocken, Vögel, ja den Staub und die Luft.
Manchmal auch Menschen...